Die Tür zum Garten von Christian Schweitzer
André Le Nôtre war ein begnadeter Gartenarchitekt, er schuf
Landschaften und Räume unendlicher Schönheit. Seine wohl bedeutenstes
Arbeit ist der Schlosspark von Versailles für König Ludwig den XIV, den
Sonnenkönig. Fast unmerklich integriert in die Gesamtanlage entwarf er
ein Labyrinth, das allen Regeln eines Labyrinths widerspricht, es
invertiert den Begriff von Architektur. Nicht die Wände, sprich die
Hecken, generieren den Raum, sondern der Weg, die Leere, bildet eine
imaginäre Wand um das Volumen der Hecken. In diesem Labyrinth gibt es
kein Ziel, keinen Mittelpunkt und keinen Ausgang, den man finden muss,
jeder Weg führt unweigerlich wieder nach Draußen. Der Verlust der
Orientierung, der Kontrolle, ist das Ziel, die Überraschung, der
unmittelbare Moment, die Inversion des Gefühls, der Weg ist das Ziel.
Durch den Anbruch des Zeitalters der Aufklärung, die die Welt mittels
rationalen, fest definierten Begriffen zu beschreiben und zu verstehen
sucht, erfährt auch das Prinzip "Labyrinth" eine unumstößliche
Definition, die ihm eine Grund zuweist, der in der Folge ein Labyrinth,
wie es Le Nôtre schuf, vermeintlich ad absurdum führt.
Nach seiner Berufung zum Frankfurter Stadtbaurat 1925 plante Ernst May
noch von Breslau aus sein eigenes Wohnhaus im vorstädtischen Ginnheim
am Abhang zum Niddatal. Als Manifest und Anschauungsbeispiel für seine
zukünftige Arbeit in Frankfurt gedacht, verpflichtet sich der erste
Entwurf der frühen Moderne, der architektonischen Avantgardebewegung
der 20er Jahre.
May, von einer traditionelleren Architekturauffassung kommend,
orientiert sich an den ungebauten Projekten seiner Kollegen, die er aus
den zahlreichen neuen, den "modernen" Gedanken propagierenden
Zeitschriften und Pamphleten kennt, wie die Arbeiten von J.J.P. Oud,
publiziert in Bruno Tauts "Frühlicht", und den Kompositionsstudien zum
Wohnungsbau von Walter Gropius und dessen Studenten in den
Bauhauspublikationen.
Der Entwurf bleibt spröde. Die achsensymmetrische, fast klassizistisch
anmutende Komposition um einen zentralen, zweistöckigen Atelierraum
dominiert die äußere Erscheinung, verliert sich jedoch im Inneren in
einer verschachtelten Grundrisskonzeption mit widersprüchlichen
Raumfolgen. Unbeholfen wirken auch die Beziehungen zum Außenraum, die
Belichtung der Räume und die den westlichen Annex umlaufende Terrasse.
Modernistische Stilelemente, wie liegende Fensterbänder,
Übereckfenster, Dreieckerker und Flachdachüberstände werden willkürlich
und ohne wirkliches Verständnis für das "Neue Bauen" eingesetzt.
Zur Ausführung aber kommt 1925/26 ein zweiter Entwurf. Das Leitmotiv,
der zweigeschossige Hauptraum mit Galerie, wird beibehalten, jedoch
außermittig in einen strengen, reduzierten Kubus integriert, der in
einem bestechend einfachen Grundrissschema alle Hauptfunktionen
aufnimmt. Dieser ist raffiniert verschränkt mit einem zweiten,
kleineren Kubus, in dem die Nebenräume wie Garage und
Dienstmädchenwohnung angeordnet sind. Das Gebäude ist bis zur
Möblierung und den Beleuchtungskörpern perfekt und in sich stimmig
durchdetailliert und in eine terrassierte und dadurch vielseitige Räume
generierende Gartenanlage integriert.
Was Ernst May dazu bewegte, seine erste Planung zu überarbeiten, bleibt
spekulativ. Sicher spielen ein Unbehagen gegenüber dem eigenen Entwurf
sowie zu hohe Baukosten eine Rolle. Wie er jedoch derart schnell die
Prinzipien des "Neuen Bauens" für sich adaptieren und zu etwas derart
Progressivem und Eigenständigem weiterentwickeln konnte, ist heute
nicht mehr nachvollziehbar. Er schuf mit diesem Haus ein Musterbeispiel
der "Neuen Sachlichkeit", einen durchdachten, modernistischen Bau, dem
Gedanken der Funktionalität folgend und aus ihr eine neue Ästhetik,
einen neuen Stil generierend, das zur damaligen Zeit vielfach
publiziert und besprochen wurde.
Nur eine Sache irritiert, die Tür zum Garten. Der Wohnraum wird
definiert durch die zweigeschossige Über-Eck-Verglasung mit einem in
die Kellerwand versenkbaren großflächigem Fensterelement, davor eine
fest eingebaute Sitzbank, die in ihrer seitlichen Verlängerung in ein
Regal und in der weiteren Folge in einen Schrank übergeht. Bei
genauerer Betrachtung stellt man fest, dass der Zugang zum Garten in
diesem Schrank in der hintern Ecke des Raumes versteckt ist, mit Sockel
und Kranzgesims und einer Durchgangshöhe von unter zwei Metern.
Es ist keine entwerferische Notwendigkeit für dieses Trompe-l'œil
feststellbar. Die Außenfassade ist kompositorisch hervorragend gelöst,
mit dem Vordach, gebildet durch den Zugang zur Dachterrasse, den Stufen
auf den Vorplatz mit dem Wasserbecken und den weiteren Terrassierungen
zum Garten. Auch im Inneren wäre die Aufnahme der Ausgangstür auf der
rückwärtigen Galerie, mit der Aufweitung für den Webstuhl Ilse Mays, im
Erdgeschoss als Kontrapunkt zu den großformatigen Schiebetüren, mit
denen sich der Wohnraum zum Arbeitszimmer und zum Esszimmer erweitern
lässt, und der gegenüberliegenden schmalen, einläufigen Treppe zur
Galerie eine Bereicherung für den Raumfluss. Wahrscheinlich
widerspräche der Blick in den Garten der großen Geste der riesigen
Westverglasung, die den Bezug zum Boden löst, wie es Le Corbusier
fordert, und den Blick in die Weite, in ein abstraktes Bild von Natur
lenkt. Aber auch diese These ist angesichts einer funktionalen Lösung
mit Klappläden oder einer unverglasten Tür nicht haltbar. Auch spricht
die aufwendige Gartengestaltung, die das Haus fest mit seiner Umgebung
verwurzelt, dagegen.
Vielleicht verweist diese "barocke Tapetentür" auf etwas tiefer
Sitzendes über den Funktionalismus hinaus. Die Tür zum Garten als
Spiel, als Geheimnis, als Tor zu einer anderen Welt, als Reminiszenz an
ein durch die Rationalität des Maschinenzeitalters vom Verlust
bedrohtes Grundbedürfnis des Menschen. Dieses Unbehagen gegenüber der
eigenen Moderne formulierte Josef Frank, der Hauptvertreter des "Neuen
Bauen" in Österreich, in einem Satz. "Das Wohnzimmer, in dem man frei
leben und denken kann, ist weder schön noch harmonisch noch fotogen. Es
entwickelt sich auf der Basis des Zufalls, es ist nie fertig und kann
alles in sich aufnehmen."
Die Aufklärung erfährt im Funktionalismus, in der vollständigen
Rationalisierung des menschlichen Handelns, seinen Höhepunkt. Sie
beschreibt, wie der Mensch am effektivsten lebt und am effektivsten
getötet werden kann. Dennoch oder gerade deshalb bleibt eine Sehnsucht
nach dem Verlust der Orientierung, der Kontrolle, nach einem inversen
Raum wie ihn Le Nôtre in Versailles schuf. Das Wohnzimmer Ernst Mays
ist schön, harmonisch und fotogen, doch gerade hier versteckt sich ein
Hinweis auf etwas Anderes, auf eine Tür zu einem Garten, den wir fast
verloren haben.
published in blattspezial no.2 2005,
p. 2
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Plan des Labyrinths im Versailler
Schlosspark von André Le Nôtre, um 1660
Erster Entwurf zum Wohnhaus May -
Westansicht, 1925 (Institut für Stadtgeschichte Frankfurt)
Wohnzimmer des Wohnhaus May mit
dem in den Keller versenkbaren Panoramafenster, Foto vermutlich Paul
Wolff, 1926
Gegenschuss, in der Ecke der
Einbauschrank mit verstecktem Ausgang zum Garten, Foto vermutlich Paul
Wolff, 1926
Ausgang zum Garten mit
Wasserbecken im Vordergrund, Still aus dem Film "Ein Wohnhaus in
Ginnheim bei Frankfurt/M" von Paul Wolff, 1926 (Ernst May Gesellschaft
Frankfurt)
Wohnhaus May vom Garten aus
gesehen, Foto vermutlich Paul Wolff, 1926
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